Anfang März hatten Sabine Koppe und ich das Glück, drei sonnige Frühlingstage im wunderschönen Stolzenhagen zu verbringen und die Aktionstage “Wirksam in Wertschöpfungsketten” zu begleiten. Eine traumhafte Aufgabe! 35 Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen aus ganz verschiedenen Kontexten waren der Einladung der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE) gefolgt, um sich mit anderen Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen zu vernetzen, den Blick für die Vielfalt der Wertschöpfungsketten zu weiten und ein besseres Verständnis sowie Methoden für die Begleitung komplexer Transformationsprozesse zu bekommen. Dabei ging es dezidiert um erlebnisorientierte Begegnungen und Begleitung. Mit diesem Beitrag wollen wir ein paar methodische Eindrücke teilen.
Inhalt
Wertschöpfungsketten-Entwicklung?
Die HNEE beschäftigt sich mit der sozial-ökologischen Transformation der Landwirtschaft. Dazu nutzen sie u.a. Ansätze der Aktionsforschung, um die Entwicklung spezifischer Wertschöpfungsketten in der biologischen und/oder regionalen Landwirtschaft zu begleiten und gleichzeitig zu erforschen. Bei solch einer Wertschöpfungsketten-Entwicklung kann es zum Beispiel darum gehen, wie im Raum Berlin/ Brandenburg Anbauer von Bio-Linsen mit Verarbeitern von Linsenprodukten und regionale Händler zusammenkommen und gemeinsam inspirierende Zukunftsideen gestalten können.
Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen sind Menschen, die diese (regionalen) Akteure für eine spezifische Wertschöpfungskette zusammenbringen und begleiten: Von Züchtern, Produzenten oder Verarbeitern bis zu Händlern oder Großküchen. Das Berufsbild dieser Rolle ist sehr vielfältig und unterschiedlich. Teilweise sind es freie Berater*innen, teilweise sind sie für beratende Einrichtungen der Bundesländer, für Öko-Modell-Regionen, für Händler oder Bioverbände (z.B. Bioland, Demeter, Naturland) oder oder oder tätig. Und ebenso divers waren auch die Teilnehmer*innen der Aktionstage, die sich zu einem großen Teil vorher nicht kannten.
Das Organisationsteam der Aktionstage
Die Veranstaltung wurde organisiert von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde in Kooperation mit dem EIP-Projekt “Regionales Bio-Gemüse aus Brandenburg“. Charis Braun, Evelyn Juister und Katja Searles haben die Idee der Aktionstage entwickelt und den groben Rahmen gesetzt. Mit ihrem Organisationsteam haben sie sich auch um die Bewerbung der Veranstaltung, das Hygienekonzept und die organisatorische Durchführung mit Bravour gekümmert. Während der Aktionstage waren sie Gastgeberinnen, vor allem aber aktiv mitwirkende und teilnehmende Wertschöpfungsketten-Entwicklerinnen.
Die Aktionstage als parallel/inverser Prozess
Bei der Konzeption wollten wir den parallel/inversen Prozess zwischen dem Wirkungsfeld der Teilnehmer*innen und den Aktionstagen aufgreifen. Die Parallelität: Als Teilnehmer*in der Aktionstage kennt man noch nicht so viele der anderen, hat noch keine Arbeitsbeziehung zu ihnen, vieles ist unklar, unsicher und unwägbar. Das geht vielen Akteuren beim Aufbau von Wertschöpfungsketten ebenso. Das Inverse: Gleichzeitig sind die Teilnehmer*innen nicht in der Rolle, den Rahmen zu halten, sondern teilzunehmen. Viele Reaktionen, Erlebnisse und Erfahrungen der Aktionstage lassen sich also auch als Qualitäten begreifen, die in der Arbeit von Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen auftauchen und die Akteure in solchen Prozessen erleben.
Die Location: Gut Stolzenhagen
Die Aktionstage haben auf Gut Stolzenhagen stattgefunden, einer Gemeinschaft verschiedener Vereine und Personen, die dort leben, kreativ wirken, Gäste unterbringen und künstlerische Workshops und Veranstaltungen durchführen. Auch wenn das Wort Gut hochherrschaftlich anmutet, so hatte es dort eine sehr charmante Atmosphäre aus besetztem Haus, internationaler Kunst- und Kulturszene und ausreichender Professionalität. Neben dem Kuhstall als Workshop-Location haben wir in der Küche des Tanz-Vereins Ponderosa gegessen und beim Feuer an den Öfen entspannt. Alle Teilnehmer*innen waren in den verschiedenen Locations des Guts untergebracht. Sabine und ich waren tollerweise bei Tereza zu Gast. Tereza hat vier herrlich bunte Zimmer, eine Küche, Co-Working-Space, Terasse, … Fast alles ist selbstgebaut und mit vielen Mustern und Farben ihrer Heimat Ruanda verziert.
Nachmittag Tag 1:
Soziometrie & 3 Kräfte der Transformation
Nach dem Ankommen in dem fantastischen Kuhstall und einigen Einführungsworten begannen die Aktionstage mit dem Gedicht “Was mich bewegt” von Rainer Maria Rielke sowie einer kurzen Meditation. Über soziometrische Aufstellungen konnten die Anwesenden dann mehr über die Gruppe erfahren. Dazu gehörte auch eine Visualisierung mit Schnüren: „Wen kennst du hier im Raum?“
Anschließend haben wir uns mit den drei Kräften der Transformation beschäftigt. Mittels des Konzepts “Space Objects” aus dem Impro-Theater konnten die Teilnehmer*innen “Kampf/ Auseinandersetzung”, “Vision/ Zusammenhalt” und “Zufälle/Ereignisse” in Aktion erleben und erfahren. Dabei haben wir uns mit der jeweiligen Kraft vertraut gemacht, den Blick auf den Prozess gerichtet und den Resonanzen nachgespürt. Mehr zu den 3 Kräften der Transformation findet sich im Artikel „Soziodrama: Organisationen in der Klimakatastrophe“.
Nach einem Debriefing, Journaling und Check-Out per 3-Bälle-Moderation ging es dann rüber in die Küche der Ponderosa.
Abend Tag 1:
Energieball-Spiel und Stühle-Skulptur
Pünktlich zur Spielfilmzeit am Abend startete unsere Abendsession. Wir hatten das Energieball-Fabrik bzw. das Ballpoint-Game mitgebracht, um die Anwesenden stärker mit Agieren in komplexen Umfeldern vertraut zu machen. In vier Runden (Sprints) mußten die vier Gruppen (Teams) unter Einhaltung bestimmter Regeln möglichst oft, Tennisbälle durch ihr System leiten. In jeder Runde gab das Team nach einer kurzen Planungszeit (2 Minuten) eine Schätzung (und ab Runde 2 eine Verbesserungsmaßnahme) ab, wieviel Bälle man “aufladen” würde. Dann wurde gespielt (2 Minuten) und gezählt. Nach einer kurzen Review-/Retrospektive (1 Minute) begann dann die neue Runde. Wie üblich wurde dabei viel gelacht, geknobelt, geschwitzt – und über die Begleitung von Transformationsprozessen gelernt.
Anschließend haben wir uns kreativ mit Stühlen im Raum bewegt und aus den Stühlen eine Stuhlskulptur zum Thema Wertschöpfungsketten-Entwicklung gebaut. Mit Hilfe der Skulptur konnten die Teilnehmer*innen ihr Verständnis von Wertschöpfungsketten-Entwicklung abgleichen, reflektieren und aus einer anderen Perspektive sehen.
Vormittag Tag 2:
Wertschöpfungsketten-Soziodrama
Der zweite Tag begann für viele Teilnehmer*innen mit einer Yoga-Session vor dem Frühstück. Der Vormittag des zweiten Tags hatte “Wertschöpfungsketten-Entwicklung in Aktion” zum Thema. Zunächst ging es an kurze Reflexionen in Stille, was in Sachen Wertschöpfungsketten-Entwicklung bei jeder und jedem gerade ansteht und wer da gerade ein wichtiger Akteur bzw. Aktant ist (außer man selbst). Die Teilnehmer*innen schlüpften dann in diese Rollen und begannen mit anderen Menschen in Rollen zu sprechen. Erste Themen und Szenen formten sich.
Anschließend suchten sechs Kleingruppen nach einem konkreten Case und wir konnten schließlich den Fall “Verbindlichere Absprachen und Preise in der Wertschöpfungskette für regionale Bio-Zuckerschoten von der Züchtung bis zur Großküche” explorieren.
Nachmittag Tag 2:
Social Presencing Theater
Am Nachmittag wollten wir stärker in die individuellen Themen und Fragestellungen eintauchen und dafür auch mit dem Körper arbeiten. Die Mittagspause haben wir genutzt, um den Fußboden des Kuhstalls so herzurichten, dass wir auch auf dem Boden sitzen oder liegen konnten. Leider gibt es vom Nachmittag keine Fotos.
Die Session begann mit einem “20 Minutes Dance”, einer ca. 20 Minütigen Bewegungsmeditation in Stille. Dabei geht es um das Wechselspiel aus Ruhe und Bewegung, die Aufmerksamkeit auf den Körper sowie die Erkundung von drei Ebenen (Im Liegen, sitzend/kniend, stehend/gehend).
Anschließend haben wir den Stuck Dance gemacht. Beim Stuck Dance findet man für eine Situation, in der man aktuell feststeckt und nicht weiterweiß, einen Ausdruck, der aus dem Körper (und nicht der Ratio) kommt. In diesen Ausdruck (sculpture 1) fühlt man sich ein. Wenn es einen Impuls des Körpers gibt, sich zu bewegen, folgt man diesem bis der Körper eine neue Ruheposition gefunden hat (sculpture 2). Wenn dann ein Wort oder Satz sich zeigt, spricht man diesen aus. Das ganze wird angereichert durch eine Resonanz von Außenstehenden (“Ich habe gesehen…”, “Ich habe gefühlt/ gespürt…”) Dieser zweite körperliche Ausdruck, der Weg dorthin sowie die Resonanz der anderen bietet häufig überraschende Erkenntnisse und Inspirationen für neues Handeln. Mehr dazu findet sich auch im Buch von Arawana Hayashi sowie auf der Seite des Presencing Institute.
Nach dem jede*r im Stuck Dance eine individuelle (professionelle) Fragestellung verkörpert und neue Impulse und Resonanzen bekommen hatte, ging es im Rahmen einer Case Clinic daran, in Kleingruppen Fälle kollegial zu bearbeiten.
Der abschließende generative Dialog wurde durch ein geschlossenes Fishbowl-Format strukturiert. Die 35 Teilnehmer*innen konnten für die 5-6 Stühle in der Mitte zunächst Menschen aus der Runde nominieren (“Wir sollten jemanden dabei haben, der/die noch ganz neu in diesem Thema ist. Daher nominiere ich…”). Interessanterweise wurde ich als Außenstehender ebenfalls vorgeschlagen, eine interessante Erfahrung so spontan die Seiten zu wechseln. Nach der Besetzung des Innenkreises hat der Außenkreis Themen und Fragen gesammelt, über die wir im Innenkreis dann diskutiert haben. Zum Abschluß hat der Außenkreis uns dann seine Beobachtungen gespiegelt.
Auf besonderen Wunsch rückte am frühen Abend des zweiten Tages eine ausgiebige Vorstellungsrunde neu auf die Agenda. Jede*r hat kurz erzählt, woher er/sie kommt, in welcher/n Wertschöpfungskette/n er/sie wirkt, bei wem er/sie angestellt ist, … Es war eine Session aufmerksamen und wertschätzenden Zuhörens. Am Lagerfeuer konnte der ereignisreiche Tag dann knisternd nachhallen.
Vormittag Tag 3:
Rollenverständnis im Wandel
Der dritte Tag lief anders als geplant. Wir haben auf den Gruppenprozess reagiert und unsere Agenda entsprechend angepasst. Statt mit dem Seed Dance aus dem Social Presencing Theater zu arbeiten bzw. fiktive Zukunftsbeiräte zu entwickeln, haben wir stärker eine Reflektion der Rolle der Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen über ein Gestern-Heute-Morgen vorgenommen. Dafür sind die Teilnehmer*innen nach und nach in die drei Kollektiv-Rollen Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen gestern, Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen heute, Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen morgen geschlüpft. Anschließend gingen diese drei Rollen miteinander in den Austausch. Dabei wurde sehr deutlich wie die Rolle entstanden ist und von Bio-Pionieren geprägt wurde und wie sich aktuell gleichzeitig Ausdifferenzierungen und Professionalisierungen vollziehen.
Nach dieser Rollenreflektion ging es schnell in Richtung Abschluß. Wir haben die Teilnehmer*innen in Rollen individueller Vorbilder geschickt. Das konnten entweder reale Personen, historische Figuren oder auch fiktive Charaktere sein. Und wie immer war alles dabei. Einige dieser Rolle traten in die Mitte des Kreises, stellten sich kurz vor und gaben den anwesenden Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen Ratschläge und Empfehlungen mit auf den Weg (ähnlich wie hier in der Superhelden-Retro beschrieben). Diese Vorbilder haben dann noch individuelle Ratschläge für die eigene Arbeit mitgegeben. Dafür haben wir ein “Talk-to-the-Wall” genutzt.
Die letzte Übung, und auch ein letztes Highlight, war dann der Zaubermarktplatz. Bei diesem psychodramatisch inspirierten Werkzeug geht es darum, das Menschen in einem Laden oder Marktplatz neue Eigenschaften, Fähigkeiten oder Wissen erwerben können. Dafür müssen sie aber mit vorhandenen Eigenschaften, Fähigkeiten oder Wissen “bezahlen”. Wir haben dies als Marktplatz gemacht. Teilnehmer*innen gingen zueinander, um konkrete Dinge zu tauschen, von den Eigenschaften, Fähigkeiten und Wissen der vielen neuen Kolleg*innen zu profitieren und sich für zukünftigen Austausch miteinander zu vernetzen.
Einige Resümees zu den Aktionstagen
“Mit den Aktionstagen wollten wir einen Lernraum schaffen, in dem die Entwicklung von Wertschöpfungsketten zu einem lebendigen Thema wird. Mit der methodischen Gestaltung und Begleitung der Veranstaltung durch Sabine und Jörg ist das gänzlich gelungen. Besonders im Soziodrama gab es viele Aha-Erlebnisse. Es wurde sichtbar, auf was es beim Aufbau von Wertschöpfungsketten wirklich ankommt und welche zentrale Rolle die Wertschöpfungsketten-Entwickler*innen für die nachhaltige Gestaltung des Ernährungssystems haben.”
Charis Braun, Koordinatorin der Aktionstage, Mitarbeiterin HNEE und
Teilnehmerin
“Als Berufseinsteigerin fand ich es wunderbar mit Gleichgesinnten in den Austausch zu kommen und durch die Übungen zu spüren, was die Begleitung von Veränderungen in Wertschöpfungsketten eigentlich bedeutet und welche Kräfte hier wirken.”
Teilnehmer*in
„Schon nach dem ersten Telefonat mit Charis Braun und Evelyn Juister habe ich Jörg angerufen und gemeint: Jörg, das ist so toll. Lass uns das bitte unbedingt zusammen machen. Das erste Gefühl war richtig – ein ganz besonderer Raum mit ganz besonderen Menschen an einem besonderen Ort. Für mich war das Arbeiten dem Fokus auf Lernen und Erfahren/ Erleben, Emergenz/ Präsenz, Aktion, Somatik und System ein absolutes Highlight. Tun und Spüren, statt reden und kleben. Davon wünsche ich mir mehr in meiner Facilitation-Praxis. Die Arbeit mit Menschen in Multi-Stakeholder Settings ist immer eine Wundertüte und es spannend zu erleben, wie Menschen innerhalb kurzer Zeit so intensiv in das gemeinsame Lernen und Erleben gehen. Für mich nehme ich auch mit, wie wichtig Netzwerke und Austausch sind – gerade für Menschen, die – meist allein und mit sehr kleinen Budgets – in solch herausfordernden und vielfältigen Aufgabenfeldern mit Sinnüberschuss (danke Jörg für dieses Wort) tätig sind.“
Sabine Koppe
Mein persönliches Fazit
Die Aktionstage sind für mich ein ganz besonderes Juwel. Es war nach langen Corona-Monaten mit sehr wenigen physischen Begegnungen wie ein kleiner Mini-Urlaub und eine besondere Freude so sinnlich-spielerisch an Transformationsthemen zu arbeiten und eine Gruppe zu begleiten. Die Aktionstage haben vieles vereint, was mir in meiner zukünftigen Arbeit wichtig ist. Erlebnisorientiertes Erkunden ohne Druck in Sachen Ergebnisse und Resultate. Die Arbeit in einem Multi-Stakeholder-Setting bzw. in einem interorganisationalen Bereich. Die Begleitung auch sozial-ökologischer Transformationsprozesse und System-Innovationen. Der Ort mit seiner Mischung aus 90er-Jahre autonomes Juzi, Internationalität und Professionalität hatte eine ganz besondere Magie. So stelle ich mir mein professionelles Wirken auch zukünftig vor.