Wenn es in Workshops um Bewertungen und Abstimmungen geht, dann sind Klebepunkte schnell zur Hand. Ich habe in den letzten Monaten eine äußerst elegante Bewertungsmethode wiederentdeckt, die vollkommen ohne Dot-Voting auskommt. Wie von Zauberhand bewertet sich auch eine große Zahl von Moderationskarten, Post-Its, Ideen oder Konzepten in kürzester Zeit. Das Tool heißt “Magic Estimation” und entstammt dem agilen Werkzeugkasten.
Immer wieder gibt es in Workshops die Situation, dass man gemeinsam Ideen, Ergebnisse, Ziele, Konzepte oder Maßnahmen bewerten soll. Meist sind diese auf Moderationskarten, Post-Its oder auf Templates wie z.B. einem Elevator Pitch notiert. Verkürzt nenne ich sie mal Objekte und meine damit all diese zu bewertenden Dinge und ihre Darreichungsformen. Immer wenn eine solche Bewertung ansteht, greifen viele reflexartig zu Klebepunkten bzw. zur (Mehr-)Punktabfrage. Dieser Artikel zeigt, dass es auch anders geht. Dafür haben wir ein Tool aus dem Scrum-Werkzeugkoffer übernommen.
Magic Estimation stellt die Logiken des Punkte-Klebens auf den Kopf
Das zauberhafte Schätzen unterscheidet sich vom Dot-Voting in doppelter Hinsicht: Zum einen basiert das Dot-Voting auf dem Prinzip aggregierter Einzelentscheide, während das Magic Estimation nach dem Prinzip eines verhandelten Konsensentscheids verfährt. Zum anderen stellt ein Magic-Estimation das Dot-Voting auf den Kopf: Bekommt beim Dot-Voting jede Teilnehmerin eine feste Zahl an Punkten, die dann auf die vorhandenen Konzepte, Ideen oder Maßnahmen zu kleben sind, so lässt das Magic Estimation die zu bewertenden Objekte dagegen entlang einer festen Bewertungsskala wandern. Das klingt abstrakt?
Die Besonderheiten des zauberhaften Schätzens
Stell Dir vor, Ihr habt in einem Kreativ-Workshop 100 erste Ideen entwickelt und sollt nun auswählen. Hier fühlt sich ein Dot-Voting schnell ruckelig an. Als Teilnehmer fällt es mir schwer aus einer Flut an Ideen so mir nichts dir nichts meine Favoriten rauszupicken. Und selbst wenn meine Mitstreiter und ich über Klebepunkte eine Auswahl getroffen haben, so werden ganz viele Post-Its auch ohne Bewertung bleiben. Weil sie keine (oder nur wenige) Punkte bekamen, ziehen wir daraus den Schluss, dass sie unwichtig sind. Wir interessieren uns nicht dafür, wie wir die Ideen am unteren Ende der Skala bewerten.
Magic Estimation dagegen bringt uns dazu, dass jede Idee, jede Maßnahme oder jedes Ziel in eine Bewertungskategorie sortiert wird. Das geht ganz bequem auch mit einer großen Menge an Moderationskarten, Post-Its oder Ideen. Quasi nach dem Prinzip: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Das Tool wurde von Boris Gloger für den Einsatz in Scrum-Teams entwickelt. Die nutzen es, um zum Beispiel User-Storys bei der Produktentwicklung nach Relevanz zu bewerten und entsprechend ein priorisiertes Backlog aufzubauen.
Magic Estimation im Überblick
- Schritt 1: Bewertungsskala festlegen
- Schritt 2: Teilnehmer verteilen die zu bewertenden Items auf die Bewertungsskala
- Schritt 3: Teilnehmer sichten das Gesamtbild und rearrangieren es
- Schritt 4: Diskussion der Items, die häufig gewandert sind
Schritt 1: Bewertungsskala festlegen
Zunächst legst Du als Moderator eine Skala fest, anhand derer die Objekte bewertet werden sollen. Im agilen Kontext wird hier häufig die Fibunacci-Reihe gewählt, sprich die Zahlen 1, 2, 3, 5, 8, 13, … Diese finden sich auch im Planning Poker wieder. Wer so ein Kartenspiel fest im Moderationskoffer hat, kann es also gut umnutzen.
Neben den Zahlen musst Du natürlich auch festlegen, wofür die Skala stehen soll. Kriterien können z.B. Relevanz, Einfluss oder Aufwand sein. 1 ist dann relativ gesehen niedrig und je höher die Teilnehmer ein Objekt sortieren, desto wichtiger wird es. Spannend an der Fibonacci-Reihe ist zudem, dass die Teilnehmer die Skala auch ganz einfach noch nach oben erweitern können, wenn ihnen die 1-13 nicht ausreichen sollten.
Wir haben das “magische Schätzen” aber auch schon mit ganz anderen Skalen durchgeführt. Im Rahmen eines Projekts mit sehr vielen externen Stakeholdern haben wir zum Beispiel gemeinsam die Bedeutung der verschiedenen Akteure eingeschätzt und eine Stakeholder-Map erstellt. Aber auch auf anderen 2×2 Matrizen haben wir Post-Its wandern lassen. Und als es in einem Strategieprozess darum ging, über eine Vielzahl kleiner Handlungsinitiativen zu den großen Themen zu kommen, haben wir eine erweiterte Start-Stop-Weiter-Logik benutzt, die der Starfish-Methode bzw. dem Four Actions Framework ähnelt. Die Teilnehmer konnten für die Vielzahl an Handlungsinitiativen entlang von ca. 7 übergeordneten Themen, die im Raum standen, zwischen folgenden fünf Kategorien wählen.
Schritt 2: Teilnehmer verteilen die zu bewertenden Objekte auf die Bewertungsskala
Die Teilnehmer schnappen sich nun die Post-Its, Moderationskarten oder Templates, die bewertet werden sollen, und hängen sie nach bestem Wissen in die Felder der Kategorien. Wenn Du z.B. 100 Objekte hast, die zu sortieren sind, und Du es mit 10 Workshop-Teilnehmern zu tun hast, dann können diese ratzfatz verteilt werden. Dieser Schritt geht daher meist unglaublich schnell.
Schritt 3: Teilnehmer sichten das Gesamtbild und rearrangieren es
Wenn alle Ideen, Konzepte oder Maßnahmen sortiert sind, verschaffen sich die Teilnehmer einen Überblick und prüfen, inwieweit sie der Bewertung ihrer Kolleginnen zustimmen. Wenn ich als Teilnehmer ein Objekt anders bewerte, dann hänge ich es einfach um. Und einem Kollegen steht es genauso frei, das Objekt wieder umzuhängen. Nach und nach sortiert sich das Bild etwas um. Meistens bleiben 80% der Karten genauso hängen, wie sie eingangs platziert wurden. Implizit gehen wir davon aus, dass es hierzu ein gemeinsames Verständnis gibt und die statischen Objekte keiner weiteren Diskussion bedürfen. Aber es gibt auch immer Items, die bewegt werden. Einige wandern sogar mehrfach und wenige hören nicht auf zu wandern.
Als Moderator muss ich die Dynamik aufmerksam verfolgen und jedes Objekt, das mindestens 1x wandert, markieren. Das geht gut, indem man die Karte mit einem Blitz markiert oder bei einem Post-It die rechte untere Ecke umknickt. Beides sind dem Konzept der schriftlichen Moderation folgend Hinweise auf Widerspruch und Diskussionspunkte. Und natürlich könnte man so eine Karte auch mit einem roten Klebepunkt markieren (*grins*).
Dieser Prozess kann schnell eine Viertelstunde dauern und manchmal kommt er auch nicht an ein natürliches Ende. Dann muss ich als Moderator das zauberhafte Schätzen beenden und direkt mit Schritt 4 weitermachen. WICHTIG ist: Schritt 2 und 3 sollen schweigend stattfinden.
Schritt 4: Diskussion der Items, die häufig gewandert sind
Zum Abschluss geht es noch einmal darum, die strittigen Objekte herauszugreifen und zu diskutieren. Die Gründe, warum es zu unterschiedlichen Bewertungen kommt, sind vielfältig. Manchmal sind die Inhalte nicht eindeutig und unterschiedliche Personen verstehen unterschiedliche Dinge darunter. Und natürlich gibt es auch unterschiedliche Auffassungen über die Relevanz.
Fazit zum Magic Estimation
Wir haben Magic Estimation das erste Mal auf dem Hackday mit SI-Labs 2016 eingesetzt. Wie es manchmal so passiert, ist es dann irgendwann ein wenig im Werkzeugkasten nach unten gerutscht – nun haben wir es in der letzten Zeit aber mehrfach wieder eingesetzt und ich bin wieder frisch verliebt.
Beim Magic Estimation wird zuerst sortiert und dann diskutiert. Dadurch steigt die Workshop-Dynamik. Du kannst viele Objekte in kurzer Zeit bewerten und erhälst eine Bewertung für alle Objekte. Aber noch viel wichtiger: Du verbringst mehr Zeit auf den wichtigen Themen und die Aufmerksamkeit richtet sich viel stärker auf die Themen, die einer intensiven Auseinandersetzung bedürfen.
Gibt es andere Arten das Magic Estimation zu nutzen? Oder kennst Du andere Alternativen zum klassischen Dot-Voting?
Dann hinterlasse doch einen Kommentare mit einem kleinen Hinweis.