High Five #38: Von wohlwollenden Mythen und einem zufallsorientierten Spielchen zwischen Leider und Glücklicherweise

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High Five

Lesedauer 5 Minuten

Hallo,
leider ist das unser letzter Newsletter. Glücklicherweise nur vor der Sommerpause. 

Apropos Pause. Ob, wann und wie Pausen gemacht werden, ist eine der vielen temporalen Dimensionen in Organisationen. Zuletzt haben wir uns immer wieder mit diesen Temporalitäten in Organisationen und ihrer Bedeutung für Strategie- und Organisationsentwicklung befasst. Zeitlichkeiten setzen Strukturen und prägen Kultur.

Hier drei aktuelle Beispiele aus den letzten Monaten: Wie viele Unternehmen startet auch ein großer Kunde von uns immer zum 1. Juli das neue Fiskaljahr und operiert so dauerhaft mit zwei Jahres-Zählzeiten. Eine andere Organisation, für die wir tätig sind, ist in einer „Lame Duck”-Phase. Alle warten darauf, dass ein neuer Vorstand benannt wird und antritt. Ein anderes Unternehmen will werdende Väter nicht mehr fragen ob, sondern wie lange sie Elternzeit nehmen möchten. Kurzum: wer die Brille der Zeitlichkeit aufsetzt, gewinnt spannende Perspektiven.

Für uns sind Schulferien eine wichtige temporale Größe. Einerseits, weil wir alle drei Väter von schulpflichtigen Kindern sind. Andererseits auch, weil Kunden Workshops in der Regel so planen, dass sie nicht in den Ferien liegen. 

Jetzt freuen wir uns auf die “großen Ferien”. Zeit der Pause. Des Müßiggangs. Der Wärme. Als kleine Extraportion gibt es nach den fünf Inspirationen zu Workshops und Transformationsarbeit ein paar Einblicke in unsere Ferienlektüreliste.

Wir sind dann mal weg!

Auf bald und alles Gute
Dirk, Jörg & Valentin


1. Wohlwollendes Hypothetisieren

In Veränderungsprozessen und bei Multi-Stakeholder-Vorhaben hilft es enorm, wenn die Akteure einander vertrauen und sich gegenseitig gute Intentionen unterstellen – besonders dann, wenn es schwierig wird. Gerade wenn Menschen zusammenarbeiten, die sich noch nicht (gut) kennen, wird ein solches Verständnis-Fundament wichtiger. Uns ist jüngst eine kleine Übung begegnet, die sich nicht nur zum besseren Kennenlernen in Gruppenkontexten eignet, sondern durch das Prinzip des Wohlwollens auch wunderbar geeignet ist, eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen.

Beim “wohlwollenden Hypothetisieren” machen sich alle in Tandems, Trios oder Quartetten ein Bild von den anderen und spekulieren wohlwollend, welche Fähigkeiten, Interessen, Eigenarten wohl der oder die andere haben mag. Welche Eigenschaften spreche ich der Person zu – alleine auf Basis des Auftretens oder des äußeren Erscheinungsbildes? Das bringt Leute ins Gespräch, kann schnell eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen und obendrein für einige Lacher sorgen. Und nebem dem Spaß öffnet es auch Raum für erkenntnisreiche (Selbst-)Reflexion: Welches Bild mache ich mir von den anderen, ohne dass ich diese Person überhaupt kenne? Welche Stereotype greifen hier und woher kommt das? Welche Annahmen an Personen leben wir als Team? Welche Vorurteile bestärken wir gemeinsam vielleicht unbewusst?


2. Myth Turning: Flaschendrehen mit Glaubenssätzen

Verdeckte Annahmen und implizite Glaubenssätze spielen in Transformationsprozessen oftmals eine große Rolle. Sie aufzudecken und besprechbar zu machen, ist ein kraftvoller Kniff. Eines der vielen Highlights auf der KOON24 war die Session zum “Myth Turning”, einer Liberating Structure in Entwicklung. Die Methode hilft, Grundannahmen und verborgene Überzeugungen offenzulegen und zu hinterfragen. 

Um überhaupt auf einen Glaubenssatz zu kommen, der implizit mein Verhalten prägt, hat uns Jacob in dieser Session zunächst in Kleingruppen mit einem kleinen Frage-Canvas ausgestattet, sodass wir zu unserem Thema (Welche Glaubenssätze habe ich mit Blick auf Workshop-Facilitation?) erst mal in Stille ein paar Fragen beantworten mussten. Nach jeder Frage wurde das Template weitergegeben. 

Nach dieser schnellen Runde notierte jede*r für sich einen Glaubenssatz, den es zu hinterfragen galt. Dann begann das eigentliche Myth Turning. Und “turning” hat hier einen doppelten Wortsinn, denn das inhaltliche “Umdrehen” der eigenen Annahmen wird methodisch durch Rotation der Teilnehmer*innen abgebildet. Konkret: Jemand stellt sich in die Mitte, liest den eigenen Glaubenssatz laut vor und schließt die Augen. Um diese Person herum rotieren die anderen im Kreis, bis die Person in der Mitte “Stopp” sagt und dann jemanden aus dem Kreis direkt gegenübersteht. Diese Person stellt dann eine Nachfrage zu diesem Glaubenssatz. Dafür hat jede*r vorab einen kleinen Zettel bekommen, auf dem verschiedene Fragen standen, zum Beispiel: “Wo siehst du diesen Glaubenssatz bestätigt?” Oder: “Wie dient dir dieser Glaubenssatz?” Die Person in der Mitte gibt Antworten zu diesen Fragen, reflektiert darüber den eigenen Glaubenssatz und kann nach ein paar Runden den Platz im Kreis für jemand anderen freimachen

Insgesamt ist das Myth Turning ein tolles Tool, das wir sicherlich noch oft in unseren Beratungsprojekten und Workshops einsetzen werden. Noch tiefer einsteigen? Dann hier entlang. 


3. Speedo Schnick-Schnack-Schnuck

Wir haben in einer anderen Ausgabe schon darüber geschrieben, dass das einfache Schnick-Schnack-Schnuck-Spiel unglaubliche Energizer-Möglichkeiten bietet: als klassische oder kooperative Variante, als Open-Schnick in der Känguru-Version, als anfeuerndes Gruppen-Domino oder in der Team-Variante mit Körpergesten. Jüngst ist uns eine weitere Spielart begegnet, die sich ganz klar in die Schublade “kompetitiv” einordnen lässt. Statt vieler Worte, schau gerne mal auf diesen Insta-Post. Der erklärt diese „Geh-mir-aus-dem-Weg“-Variante ganz gut. 


4. Leider-Glücklicherweise-Gespräche

Bei der „Leider-Glücklicherweise-Story” geht es darum, dass eine Geschichte oder ein Sachverhalt immer reihum weitererzählt wird. Eine*r beginnt mit einer Aussage: „Leider …“. Die nächste Person führt die Geschichte mit einer Aussage weiter: „Glücklicherweise…“ Und so weiter, immer reihum. 

Ideal ist das im Trio, sodass alle abwechselnd mit dem „Leider“ oder „Glücklicherweise“ dran sind – bei gerader Zahl hängen alle sonst in der Positiv- oder Negativ-Rolle fest.

Jörg: Leider haben wir für diesen High Five nicht so tolle Bilder.
Dirk: Glücklicherweise haben wir vor der Sommerpause noch einen High Five versendet
Valentin: Leider sind bestimmt schon viele in den Ferien und lesen den Newsletter nicht.
Jörg: Glücklicherweise gibt es auch Menschen, die noch keine Ferien haben oder auch im Urlaub unseren Newsletter lesen.
Dirk: Leider wissen wir das nicht.
Valentin: Glücklicherweise haben wir ja ein Archiv, in dem alle Ausgaben gebündelt sind.
…. 

Diese Übung, die ihren Ursprung im Impro-Theater hat, macht nicht nur Spaß, sondern sorgt auch für einen guten Perspektivwechsel. Sie schult den eigenen Resilienz-Muskel, weil es immer darum geht, dem Negativen auch etwas Positives abzugewinnen. Die Übung lässt sich auch mit “ernsten” Themen im Rahmen von Retrospektiven oder Offsites gut inhaltlich einsetzen. Bei unserem Multi-Orakel auf dem Big & Growing Festival haben wir beim anschließenden Bierchen festgestellt, dass sich dieses Format auch super zum Debriefing von Aktionsmethoden oder anderen Workshop-Sessions nutzen lässt.


5. Beteiligung nach dem Zufallsprinzip

Leider steckt die parlamentarische Demokratie in ernsten Schwierigkeiten. Glücklicherweise gibt es viele spannende Initiativen zu deren Erneuerung. Eine dieser Demokratieinnovationen sind Bürger*innen-Räte. Dabei kommt eine zufällig ausgewählte, repräsentative Gruppe an Bürger*innen zusammen, um mithilfe von Expert*innen Empfehlungen für die Parlamentarier*innen auszuarbeiten. Das jüngste, prominente Beispiel war der „Bürgerrat Ernährung im Wandel“ des Deutschen Bundestags, der von September 2023 bis Januar 2024 arbeitete (Quelle 123).

Ein zentrales Prinzip dieser Räte ist die zufallsorientierte Auswahl von Bürger*innen. Derzeit erkunden wir mit dem Bürgerhaus Wilhelmsburg, wie wir das Prinzip für die Programmentwicklung nutzen können. Das Ziel dabei ist es, mehr Menschen aus dem Stadtteil an Programmentscheidungen mitwirken zu lassen. Menschen, die sich bislang eher nicht beteiligen. Dafür lesen wir gerade ein tolles Buch, das sehr plastisch und praxisnah darüber berichtet: “Wir holen euch ab” von Katharina Liesenberg und Linus Strothmann.

Im Kontext von Organisationsentwicklung und Großgruppen-Veranstaltungen gibt es das Format des Wisdom Councils. Auch dort erarbeitet eine zufällig besetzte Gruppe von 12 Mitarbeiter*innen Empfehlungen zu einer Fragestellung.


Unsere Leseliste für den Sommer

Sommerzeit. Urlaub. Und Muße, in Ruhe mal einige Zeilen zu lesen. Wer noch Lektüre-Inspiration benötigt – diese Werke nehmen wir mit in den Urlaub. 

Klaus Eidenschink: Die Kunst des Konflikts
Allesandro Barrico: Oceano Mare
Jasmin Schreiber: Endling 
Iain McGilchrist: The Matter With Things: Our Brains, Our Delusions and the Unmaking of the World
Nana Kwame Adjei-Brenyah: Chain Gang All Stars
Aiki Mira: Neurobiest 

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