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Raus aus der Komfortzone – aber wohin dann?

Von Komfortzonen ist immer dann die Rede, wenn es darum geht, sie zu verlassen. Über den Tellerrand blicken, über seinen Schatten springen, an die Grenzen gehen – und darüber hinaus. Es wird immer nur ein „raus“ gefordert, aber niemand kann so richtig sagen, wohin eigentlich, wie weit raus man gehen darf oder was das für Konsequenzen mit sich bringt. Mindestens so schlecht, wie in der routiniert-kuscheligen Wohlfühlzone zu verharren, ist, sich zu schnell zu weit aus ihr hinauszuwagen. Im Sport gilt: Wer seine Muskeln überdehnt, verletzt sich. Und wer in Organisationen zu schnell zu viel will, erntet Frustration, Panik, Widerstände. Ein Plädoyer für kleine Schritte und gesunden Pragmatismus.

TL;DR

Der Text hat zwar nur eine Lesedauer von 10-15 Minuten, aber für die Pragmatischen oder Zeitarmen unter Euch hier ein „Too long, didn´t read“: Die Komfortzone zu verlassen, ist zwar schwer, klingt aber erst einmal toll. Es kann allerdings auch negative Konsequenzen haben. Wer zu schnell zu viel will, überspringt die Lern- und Wachstumszone und landet direkt in der Panik- und Frustrationszone.

Lähmende Dynamik

Da steht der neue Abteilungsleiter also vor seinem Team und hält eine kleine Begrüßungsrede. „Wir müssen raus aus unserer Komfortzone“, sagt er mit kraftvoller Stimme, und seine Hände wedeln dynamisch durch die Luft. Einige der Zynismus erprobten Mitarbeiter machen ein Kreuzchen in ihr Bullshit-Bingo-Feld. Abwarten, denken sie lächelnd. Denn sie wissen: Entweder versprüht der Neue hier so viel Energie, dass die anschließende operative Hektik die gesamte Abteilung lahmlegen wird und alle Mitarbeiter sich im Sprint aus der Komfortzone verausgaben und verzetteln werden. Oder die großen Worte, die dieser Anzugträger gerade von der Bühne bläst, werden im Laufe der Zeit durch die harte Unternehmensrealität kleingebröselt, weil Tagesgeschäft und Organisationskultur jeden Aufbruch im Keim ersticken werden. Konsenskrümel statt fetter Torte.

„Aber was ist die Alternative?“, fragt die Praktikantin die alten Hasen, die sich beim Mittagessen in der Kantine über die hohlen Worte des Neuen aufregen. „TINA“, lacht ein Mittvierziger und zwirbelt mit der Gabel seine Spaghetti auf den Löffel. „Abkürzung“, klärt ein anderer Kollege auf. „Akronym von: There is no alternative.“

Das Randgebiet der Komfortzonen: “Drop your tools or you will die”

Der amerikanische Organisationsforscher Karl E. Weick untersuchte Ende der 1990er Jahre den tragischen Tod mehrerer Feuerwehrleute, die bei einem Waldbrand von plötzlichen auftauchenden Brandherden überrascht wurden und ums Leben kamen. Trotz expliziter Aufforderung ihrer Vorgesetzten warfen die Brandschützer ihre schweren Werkzeuge (Äxte, Schaufeln, Rucksäcke) nicht weg. Durch das Festhalten an ihrer schweren Ausrüstung schafften sie es nicht sich in Sicherheit zu bringen. Weicks Antwort, warum sie die Werkzeuge nicht fallen ließen, klingt verblüffend banal. Sie konnten nicht anders. „Die Instrumente hatten ihnen in Hunderten von Situationen geholfen. Warum sollten sie ausgerechnet jetzt auf genau das verzichten, was bisher ihr Überleben sicherte?“, schreibt Heiko Roehl dazu in einem sehr lesenswerten Artikel der Zeitschrift für Organisationsentwicklung.

Dieses Beispiel wird gerne zitiert um zu zeigen, wie gefährlich Routine sein kann, wie schädlich ein Beharren ist, wenn es eigentlich auf Beweglichkeit ankommt – und wie schwer es uns fällt, lieb gewonnene und etablierte „Werkzeuge“ über Bord zu werfen, selbst wenn sie sich als unwirksam und hinderlich erweisen.

Extremreaktionen: alles wollen – oder es gleich ganz bleiben lassen

Mir geht es aber in diesem Beispiel nicht um die Kunst des Verlernens, denn ich bezweifle, dass man aktiv verlernen kann. Man kann lediglich Sachen in Vergessenheit geraten lassen, indem man sie nicht wiederholt. Verlernen funktioniert nur, wenn gleichzeitig anderes Handeln gelernt und gelebt wird und als neue Routine die alte ersetzt.

Was ich an diesem Beispiel interessant finde, ist eine andere Hypothese Weicks, nämlich die, dass die Feuerwehrleute angesichts der gewaltigen Bedrohung im Loslassen ihrer Werkzeuge nur eine minimale Veränderung sahen, die kaum Vorteile hat. „Small changes seem like trivial changes, so nothing changes.“ Kommt Euch das bekannt vor? Wer vor großen Herausforderungen steht, reagiert häufig in Extremen. Das gilt für Menschen und Organisationen gleichermaßen. Entweder man verfällt in Schockstarre und ist gelähmt ob der vielfältigen Möglichkeiten, die es gibt. Oder man plant den ganz großen Wurf. Denn wenn man schon die Komfortzone verlässt, also Vertrautes aufgibt, dann auch richtig. Minimalveränderungen sind ja nicht wirklich innovativ. Also bitte schön sofort die richtig dicken Bretter bohren, die große Disruption, das noch nie dagewesene Produkt, oder die umfangreiche Reorganisation.

Eine zu hohe Dosis des Neuen führt auf direktem Weg in die Frustrationszone.

Den No-Brainer hatte ich in an anderer Stelle schon mal zum Besten gegeben: Neues entsteht nur außerhalb der Komfortzone. Das mag unbequem sein, stressig und unsicher. So weit, so klar. Aber wer zu schnell rausgeht, wer zu viel auf einmal will, der überfordert die Akteure und überdehnt die Bänder des „Unternehmensorganismus“. So verlässt man zwar die Komfortzone, aber kommt auf direktem Weg in den roten Bereich, in dem Frustration und Panik, Überforderung und Reaktanzen warten.

Es zeigt sich also auch hier wieder: Manchmal ist „gut gemeint“ das Gegenteil von „gut“. Der Ausflug aus der Komfortzone muss nicht zwangsweise eine erhellende Erfahrung sein, sondern kann schnell zur Belastung werden – mit der Konsequenz, dass man sich wieder in sein Schneckenhaus einigelt und allem Neuen skeptisch gegenüber steht. So verbrennt man durchaus vorhandenes Innovationspotenzial und züchtet sich Zyniker, Besitzstandswahrer und Abwarter im Unternehmen heran.

Kleine Schritte, große Wirkung: Ein Besuch in der Lern- und Wachstumszone

Die Kunst ist, im positiven Stressraum zu bleiben, dem Land der neugierigen Spannung. Dieser Raum ist die Lern- bzw. Wachstumszone. Gefordert, aber nicht überfordert werden. Das Neue bearbeiten, aber sich nicht zu weit aus dem Fenster wagen. Dabei gibt es allerdings zwei Probleme. Erstens, das Weick´sche Problem der Trivialität kleiner Veränderungen, das sich in Sätzen zeigt wie „Ich bin hier angetreten, um Großes zu leisten. Mit Kleinkram fange ich erst gar nicht an.“ Oder: „Wenn wir hier nicht das Rad neu erfinden, brauchen wir so einen Innovationsworkshop gar nicht erst durchzuführen.“

Zweitens, die Tatsache, dass verschiedene Akteuren im Unternehmen die Grenzen zwischen Komfortzone, Lernzone und Panikzone unterschiedlich ziehen. Wo genau der Grenzübergang in der eigenen Organisation liegt, fühlt man an der Unternehmenskultur, weiß man aus Erfahrung und findet man durch Ausprobieren aus. So wie Kinder auch immer versuchen, ihre Grenzen zu testen – und dabei entweder mit dem Kopf vor die Wand laufen oder damit durchkommen. Wo genau dieser Grenzübergang bei einzelnen Personen liegt, finden Führungskräfte durch Gespräche und Verständigungsprozesse heraus. Die Lernzone des einen kann bereits die Panikzone des anderen sein. Und genau da setzen auch wir in unseren Klärungsprozessen zu Beginn eines jeden Projektes an, um die Beteiligten und ihre Interessen, Hoffnungen und Sorgen besser zu verstehen.

„Wer schnell ans Ziel will, sollte langsam gehen.“

Das wusste schon der alte Konfuzius. Und dieser Satz ist fester Bestandteil meiner familienpädagogischen Floskelsammlung. Den krame ich immer dann hervor, wenn ein Tochterkind bei ihrem Vorhaben Gefahr läuft, den dritten Schritt vor dem ersten zu machen.

Dabei heißt „langsam gehen“ nicht etwa trödeln. Es bedeutet, einen Schritt machen, gucken, wie sich das Neuland anfühlt und überprüfen, ob man für den nächsten Schritt irgendetwas beachten muss, das beim ersten Schritt noch keine Rolle gespielt hat. Eine „Politik der kleinen Schritte“ impliziert immer auch Reflexion und Iteration. Dabei ist es grundsätzlich nicht verwerflich, wenn man nach den ersten Schritten wieder in seine Komfortzone zurückkehrt. Hat man halt einmal über den Tellerrand geschaut, was Neues gelernt und festgestellt: ach nee, doch nicht das Richtige. Das ist etwas ganz anderes, als aus Bequemlichkeit, Angst, Risikoaversion oder Unsicherheit gar nicht erst loszugehen.

Komforteinstellungen

Workshops sind geschützte Räume, um das Neue vorzudenken

Strategie- oder Innovationsworkshops sind in diesem Zusammenhang geschützte Bereiche, um auszuloten und auszuhandeln, wie weit man gehen kann oder sollte, was das Unternehmen, die zeitlichen oder finanziellen Ressourcen oder der eigene Mut überhaupt zulassen. „Die Leute mitnehmen“ ist eine Formulierung, die ich gar nicht mag, das suggeriert Bevormundung. Aber wenn sich unterschiedliche Akteure gemeinsam in die Lernzone begeben und besprechen, wie genau dieses „Außerhalb“ der Komfortzone aussehen kann, kann die Veränderung eine ganz andere Eigendynamik entwickeln, als wenn ein Anzugträger von der Bühne die Marschrichtung bläst und mit einer illusorischen Zielvorgabe die Leute geradewegs in die Frustrationszone schleudert.

Oft erleben wir gerade in Innovationsprozessen, dass unsere Auftraggeber gerne zu den Sternen reisen möchten – und am Ende froh sein können, wenn sie es bis zum Mond geschafft haben. Soll heißen: Viele versprechen sich tiefgreifende Veränderungen, erwarten den ganz großen Wurf. Aber die Realität sieht anders aus. Entweder fehlt die Bereitschaft, zeitliche, finanzielle oder personelle Ressourcen anders einzusetzen – oder diese Ressourcen sind schlicht und ergreifend gar nicht vorhanden.

Pragmatismus statt Überforderung

Zum Glück ist die Welt nicht nur schwarz und weiß. Und zwischen dem „business as usual“ und dem Denken in zu großen Dimensionen liegt ein großer Graubereich dessen, was möglich und machbar ist, was mit den vorhandenen Ressourcen gestemmt werden kann. Etwas, das alle ein Stückchen weiter nach vorne bringt. Nennen wir diese Grauzone einfach „pragmatisches Handlungsfeld“.

Leider ist Pragmatismus ja immer noch ein eher negativ besetzter Begriff. Genau wie das Wörtchen Komfortzone. Wer pragmatisch ist, steht häufig unter dem Generalverdacht, sich das Leben zu leicht zu machen. Das mag manchmal stimmen, aber eben nicht immer. Für mich bedeutet Pragmatismus, sich auf das Machbare zu fokussieren. Und gerade in (großen) Unternehmen mit ihren festen Strukturen, klar geregelten Arbeitsabläufen, vorgegebenen Kennzahlen und mikropolitischen Machtspielen ist das Leben eben kein Wunschkonzert, in dem alle nach ihrer eigenen Pfeife tanzen können.

Als Berater und Moderator muss ich herauszufinden, wo die Lernzone liegt.

Ein solch pragmatischer Ansatz bedeutet für mich als externem Berater dafür zu sorgen, dass die Menschen, mit denen ich arbeite, persönlich entscheidungsfähig und im Unternehmen anschlussfähig bleiben. Was nützt die tollste Idee, wenn sie am Tag nach dem Workshop an den Klippen der Unternehmensrealität zerschellt? Aber das Neue muss zumindest so toll sein, dass nicht nur die am Prozess Beteiligten merken, sondern auch im Flurfunk die Meinung gestreut wird: Oha, das ist neu, das ist gut.

Genau das ist der schmale Grad zwischen Komfortzone („Alter Wein in neuen Schläuchen.“) und Frustrationszone („Das ist eine Nummer zu groß für uns.“). Genau das ist ein Arbeiten mit und in der Lern- und Wachstumszone. Aber als Externer muss ich zu Beginn eines Projektes erst einmal herausfinden, wo diese Zone liegt – im Unternehmen genauso wie bei einzelnen Projektbeteiligten. Nur so lässt sich beispielsweise ein Workshop so konzipieren, dass die Komfortzone zwar verlassen, aber die Frustrationszone nicht erreicht wird.

Der Moderator als Beschleuniger und Bremser

Damit habe ich als Moderator eine Doppelrolle: einerseits Beschleuniger, der Diskussionen strukturiert und dabei hilft, Neues zu denken. Für diese Beschleunigerrolle werde ich gebucht, denn mein Tagesgeschäft ist die unternehmerische „Außerordentlichkeit“. Ich komme also immer dann, wenn etwas in Bewegung geraten soll.

Ich muss aber auch darauf achten, dass die Leute nicht zu weit gehen, dass sie sich nicht übernehmen und nicht zu viel auf einmal wollen. Als Moderator greife ich da auf Interventionen und Konkretisierungen zurück, die den Workshop-Teilnehmern helfen sollen, realistisch zu bleiben und pragmatisch zu entscheiden: Kriegen Sie das hin? Ist das realistisch? Wer soll das denn bei Ihnen machen? Haben Sie persönlich die Zeit dazu? Das sind Reality-Check-Fragen, die manchmal als problematisierend wahrgenommen werden. Aber sie helfen, die Restriktionen der Unternehmensrealität im Blick zu behalten. Denn mindestens so wichtig wie die Frage „Welche Vorteile bringt das für uns?“ sind die Fragen „Was handele ich mir damit ein?“ und „Wie kann es trotzdem gehen?“

Komfortzone – Lernzone – Frustrationszone

Welche Erfahrungen habt Ihr mit diesen drei Zonen und vor allem mit den Übergängen gemacht? Wie schafft Ihr es beruflich (als Moderatoren und Berater bzw. als Akteure in Unternehmen) oder auch persönlich, nicht zu viel Neues auf einmal anzugehen, aber trotzdem Veränderungen anzustoßen?

Dirk Bathen
Kategorie: Standpunkte

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Soziologe, Autor und Universaldilettant. Als selbstständiger Organisationsberater hilft er Unternehmen und Führungskräften seit 2012, Klarheit über Zukunftsfragen zu erlangen. Vorher war der Vater dreier Töchter Geschäftsführer im Hamburger Trendbüro und in der Marktforschung und Markenberatung tätig. Nebenbei schwärzt er alte Zeitungsartikel und veröffentlicht „Blackouts“ sowie zentrale Randnotizen und bunte Strohhalme zur Weltbewältigung auf seinem Blog mentalreserven.de. www.dirkbathen.de Xing-Profil Kontakt auf LinkedIn

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